Das Stadtwerk am See in Friedrichshafen stapelt nicht grad tief. Als „Stadtwerk am täglichen Wahnsinn“ tritt es an, seinen Kunden das Leben zu erleichtern. Und unter dem Motto „Stadtwerk am Durchstarten“ will es sich auf Bundesebene als vielseitiger Dienstleister platzieren. Statt sich von den Umwälzungen in der Energiebranche überrollen zu lassen, gehen Geschäftsführer Alexander-Florian Bürkle und sein motiviertes Team die aktuellen Herausforderungen proaktiv an. Der 49-Jährige führt das Stadtwerk am (Boden-)See seit 2016 und hat kürzlich seinen Vertrag verlängert. Welche innovativen Ideen die Bodensee-Stadtwerker in den kommenden fünf Jahren umsetzen wollen, berichtet Bürkle im Stadtwerke-Monitor-Interview.
60.000 Haushalte am nördlichen Bodenseeufer versorgt das Stadtwerk am See, das 2012 aus den Technischen Werken Friedrichshafen und den Stadtwerken Überlingen fusionierte, mit Strom, Erdgas, Wärme und Trinkwasser. Das ist die Standardaufgabe eines Energieversorgers. Sie aber erklären nun, den Menschen das Leben vereinfachen zu wollen. Wie soll das gehen?
Da wäre zum Beispiel die Multi-Modalitätskarte, die wir im Sommer aus der Taufe heben werden. Mit der „grünen Karte“ können alle öffentlichen Verkehrsmittel in Bodensee-Oberschwaben, also die Stadtbusse und Regionalbahnen oder auch der Katamaran zwischen Friedrichshafen und Konstanz, genutzt werden. Auch das Parken in unseren sieben Parkhäusern funktioniert mit ihr bargeldlos. Dafür muss die Karte einfach nur an die Check-Ins bzw. Check-Outs in den Bahnhöfen, Bussen und Parkhäusern gehalten werden. Am Ende des Monats erhält man dann eine Sammelrechnung, auf der alle Leistungen abgerechnet werden. Die intelligente Karte, deren Erwerb für den Stadtwerk-Kunden gratis ist, erspart das lästige Zahlen vor Ort und ist außerdem eine Rabattkarte. Wer Strom von uns bezieht, fährt und parkt 20 Prozent günstiger, wer Strom und Gas bezieht, 40 Prozent und so fort.
So wollen Sie Kunden binden.
Exakt. Wir wollen unsere Kernprodukte – Strom, Wasser, Gas, Wärme – besser bündeln und sie für die Menschen attraktiver machen: Je mehr Produkte aus dem Haus Stadtwerk am See ich beziehe, desto günstiger werden die Sonderleistungen. Perspektivisch soll die „grüne Karte“ auch auf Schwimmbäder, die Messe, die Eiskunstlaufbahn, auf Ladesäulen, das Carsharing und vieles mehr ausgeweitet werden.
Zu den Markenkernen des zu 100 Prozent in kommunaler Trägerschaft befindlichen Stadtwerks am See zählen neben der Lebensnähe, über die wir gerade gesprochen haben, auch der Leistungsanspruch, also der, sich täglich zu verbessern. Als dritten Punkt nennen Sie die Zukunftsorientierung. Was ist darunter zu verstehen?
Seit der Marktöffnung 1998 befindet sich die Energiebranche in einem sehr starken Wandel. Auch weil immer mehr branchenferne Wettbewerber auf den Markt drängen. Zwar trägt uns das traditionelle Kerngeschäft noch: Wir verzeichnen in den Bereichen Strom, Gas und Wärme ein jährliches Wachstum von zehn bis 15 Prozent – und zwar bundesweit. Aber wir sind der festen Überzeugung, dass das in einem Jahrzehnt nicht mehr der Fall sein wird und wesentliche Umsatzanteile wegbrechen werden. Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel: Wenn Sie in der Zukunft bei Mediamarkt oder Saturn online einen Flatscreen-Fernseher oder eine Waschmaschine kaufen, gibt’s den Strom gleich mit dazu. Und Samsung oder Miele werden den dann eher nicht von einem mittelständischen Unternehmen wie Stadtwerk am See beziehen, sondern von den großen Playern. Und weil das alles schon absehbar ist, müssen wir uns heute Gedanken machen, wie wir morgen Geld verdienen.
Mit Wasser, Wärme, Gas und Strom wird das also nicht mehr gehen?
Doch, schon noch eine Weile und solange wir in dem Bereich sogar noch wachsen können, werden wir natürlich die Kernprodukte weiter verkaufen, angesichts schrumpfender Margen aber wohl mit wesentlich mehr Anstrengung als bisher, damit es sich lohnt. Innovative neue Geschäftsmodelle sind in unserer Zukunftsstrategie aber der wesentlichste Punkt. Dazu gehört zum Beispiel der Ausbau der Infrastruktur für Elektromobilität.
Sie meinen die Stadtwerk-am-See-Ladesäulen, die Sie rund um den Bodensee und an weiteren Hotspots in Deutschlandaufgestellt haben? Dieses Ladenetz wollen Sie ausbauen?
Ladesäulen haben natürlich ihre Berechtigung. Die öffentliche Ladeinfrastruktur ist aber nicht unser Schwerpunkt, weil wir fest davon ausgehen, dass das Laden der E-Autos in Kürze nicht mehr während des 20-Minuten-Einkaufs auf dem Edeka-Parkplatz, sondern vor allem zuhause oder am Arbeitsplatz stattfinden wird. Dank einer steigenden Reichweite wird es in absehbarer Zeit ausreichen, die Wagen nur noch dann zu laden, wenn sie lange stehen. Folgerichtig beobachten wir, dass der Bedarf an guter Lade-Infrastruktur besonders in Industrie und Gewerbe wächst. Hier werden bereits heute immer mehr Fahrzeugflotten umgerüstet. Darauf haben wir reagiert und bieten seit einem halben Jahr technologie-offene Quick-Checks für Firmen und Hausbesitzer an.
Und? Wie läuft’s?
Die Leute rennen uns die Türe ein. Wir kommen mit unseren Standort-Untersuchungen und E-Mobilitätskonzepten gar nicht mehr nach. Auch deswegen ist das „Stadtwerk am Durchstarten“ eben auch das „Stadtwerk am täglichen Wahnsinn“. Der Vorteil für den Kunden liegt darin, dass wir nicht nur konzeptionieren, sondern die Infrastruktur dann auch bauen können. Das kommt an. Namhafte Unternehmen etwa aus der Luftfahrt- oder OEM-Branche zählen zu unseren Kunden.
Für große Unternehmen amortisiert sich die kostspielige Erweiterung eines Netzanschlusses sicher schnell. Aber wie schaffen das kleine Firmen oder die Besitzer von Mehrfamilienhäusern, die ihre Tiefgaragen umrüsten wollen?
Unser Ansatz ist ein anderer. Wir sagen, es lohnt sich, in Intelligenz zu investieren, um die Kapazitäten eines bestehenden Netzanschlusses besser nutzen zu können. Dafür bauen wir einen Controller ein, der dafür sorgt, dass zwar Spülmaschine und Steckdose vorrangig mit Strom versorgt werden, aber die E-Autos in der Garage geladen werden, wenn der Bedarf in den Häusern gering ist, also etwa nachts. So wird die zur Verfügung stehende Strom-Kapazität effizient genutzt.
Die Energiewende, die politisch und gesellschaftlich mehrheitlich gewollt ist, stellt Energieversorger vor mannigfaltige Herausforderungen. So wird es beispielsweise immer komplizierter, Stromerzeugung und -bedarf in Einklang zu bringen, seit der Strom nicht mehr in Einbahnrichtung vom Atomkraftwerk oder Kohlemeiler zum Verbraucher fließt.
In der Tat.Heute hat der eine Nachbar eine Photovoltaikanlage auf dem Dach, die mehr erzeugt, als er verbraucht. Morgen installiert sich der nächste eine Ladesäule in der Garage. Zu den vielen neuen Quellen, also Wind-, Wasser- oder Sonnenenergie, kommt die Tatsache, dass Strom nur begrenzt speicherbar ist. Neue Bedarfe wie die wachsende Elektromobilität erschweren es zusätzlich, ununterbrochen ausreichend Strom in hervorragender Qualität vorzuhalten. Damit kommt unseren Lebensadern, den Strom-, Gas-, Wasser- und Wärmenetzen, als ausgleichendes Element immer mehr Bedeutung zu. Doch das funktioniert nur, wenn diese Netze mit Intelligenz ausgestattet und zu selbstlernenden Systemen werden. Das Stadtwerk am See simuliert schon seit einiger Zeit das Netz der Zukunft in Friedrichshafen. In einem vom Bundesumweltministerium mit 2,5 Mio. Euro geförderten Leuchtturmprojekt, an dem u. a. die Hochschule für Technik in Konstanz beteiligt ist, erforschen wir den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Steuerung der Netze. Dabei soll die KI wie ein Regler funktionieren und das Stromnetz stabil halten.
Künstliche Intelligenz lässt sich in vielen weiteren Zuständigkeitsbereichen von Stadtwerken nutzen. Was verbirgt sich zum Beispiel hinter LoRaWAN?
Das ist eine weltweit anerkannte Funktechnologie für die Datenübertragung im Internet der Dinge, die speziell für kommunale Unternehmen entwickelt wurde. Wir nutzen LoRaWAN seit rund einem Jahr in der Wohnungswirtschaft für die Fernauslese von Wärme, Warm- und Kaltwasser sowie Gaszählern. Jetzt muss niemand mehr in einen Schacht klettern und mühsam vor Ort den Wasserstand ablesen. Das ist ein Schritt in Richtung Smart City. Weitere Anwendungsbeispiele für die intelligente Messtechnik sind die Überwachung der Füllstände von Glascontainern und Mülleimern oder das Parkraummanagement. In beiden Bereichen befindet sich das Stadtwerk am See derzeit in der Testphase. Was die Steuerung der Beleuchtung und die Überwachung der Raumluft angeht, wenden wir LoRaWan bereits seit einigen Monaten im Unternehmen selbst an. Ein weiterer aktueller Use Case ist die Landesgartenschau in Überlingen. Hier steuern wir das pandemiebedingt verschärfte Zutrittsmanagement ebenfalls über die Funktechnologie.
Vielen Dank für das Gespräch.
Weitere Infos zum Stadtwerk am See finden Sie hier.
Alexander-Florian Bürkle, 1971 in Ulm an der Donau geboren, hat sein halbes Arbeitsleben in der Energiewirtschaft verbracht. Für die Energie Baden-Württemberg AG bekleidete der Diplom-Kaufmann mehr als 20 Jahre lang unterschiedliche Management-Positionen in mehreren Konzerngesellschaften an verschiedenen Standorten im Ländle, zuletzt auf der Ostalb. 14 Jahre lang war er nebenbei als Geschäftsführer eines kleineren EnBW-Stadtwerks tätig. 2016 übernahm Bürkle den Geschäftsführerposten beim Stadtwerk am See sowie den Vorsitz der Geschäftsführung der Technischen Werke Friedrichshafen-Unternehmensgruppe.
Fotos: Stadtwerk am See