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Doppelt Spitze

Wie die Stadtwerke Menden mit flachen Hierarchien und in Konsentverfahren die komplexen Herausforderungen der Zukunft meistern.

Seit 160 Jahren sichern die Stadtwerke Menden die Daseinsvorsorge für die märkische Mittelstadt. Derzeit vollzieht sich an der Spitze des kommunalen Versorgers ein Wechsel. Geschäftsführer Bernd Reichelt (57) verlässt Ende April das Sauerland, um fortan die Stadtwerke Schleswig-Holstein zu leiten. Matthias Lürbke (58), gebürtiger Mendener und bereits seit 2015 in der Geschäftsleitung tätig, folgt Reichelt auf dem Chef-Sessel nach. Bis dahin führen die beiden Ingenieure das Stadtwerk als Duo. Wieso sich die Doppelspitze auszahlt, weshalb Menden auf sehr flache Hierarchien und Basiskonsens setzt und warum sich die Herausforderungen im Energie- und Versorgungssektor nur in Teamarbeit meistern lassen, erzählen Reichelt und Lürbke im Interview.

Sind zwei Chefs für 150 Mitarbeiter nicht einer zu viel?

Reichelt: Mit dieser Interimslösung sichern wir die Kontinuität im Unternehmen. Zusammenzuarbeiten ist für uns auch nichts Neues, zumal Matthias und ich bereits seit zehn Jahren, also seitdem ich bei den Stadtwerken bin, Teil der vierköpfigen Geschäftsleitung sind. 

Lürbke: Außer, dass jetzt zwei unterschreiben müssen, hat sich nicht viel geändert. Und im Vier-Augen-Prinzip arbeiten wir sowieso immer schon.

Reichelt: Sie müssen wissen, dass das, was man so schön als „unternehmenskulturelle Transformation“ bezeichnet, bei uns seit 2015 im Gange ist. Wir zeichnen uns immer mehr durch eine sehr hierarchiearme, auf Teamstrukturen basierende Organisationsform aus. Das heißt, dass immer eine Gruppe von Menschen, die sich je nach Themengebiet anders zusammensetzt, gemeinsam entscheidet, tut und verantwortet. Top-Down-Entscheidungen versuchen wir zu vermeiden und suchen lieber Lösungen im Konsentverfahren: Solange keiner dagegen ist, ist das die Entscheidung.

Hört sich anstrengend an. Wäre es nicht unkomplizierter, wenn wie gehabt der Boss entscheidet und alle anderen sich beugen?

Reichelt: Und dann? Dann entscheidet einer und die anderen gehen auf Widerstand oder kommen mit einer besseren Idee. Tatsächlich scheint der Aufwand, wenn mehr Menschen ihre Ideen, Meinungen und Kompetenzen einbringen, nur auf den ersten Blick größer. Am Ende haben Sie aber alle mitgenommen und müssen nicht mehr nachjustieren. Wir machen sehr positive Erfahrungen damit. Noch ein Vorteil gegenüber der klassischen Pyramide, in der nicht nur Verantwortung und Gestaltungsmacht in der Geschäftsführung zentralisiert sind, sondern auch die gesamten Aufgaben und alles an wenigen hängt, ist, dass Sie Kapazitäten haben für eigene Steckenpferde. Nur weil unsere Teams so autark arbeiten – wir haben mit 22 Teamleitern nur eine Führungsebene – und die Kollegen sich nicht für alles drei Haken holen müssen, konnte ich mich voll auf Unternehmensorganisation und Personalentwicklung konzentrieren sowie auf die kommunale Vernetzung und Beziehungspflege, die einen schnellen Informationsfluss ins Unternehmen sichert. Wohingegen Matthias sich vor allem den Bereichen Netzinfrastruktur, Finanzen, Versorgungssicherheit und Dekarbonisierung gewidmet hat.

Lürbke: Angesichts der wachsenden Komplexität, mit denen sich Energieversorgungsbetriebe auseinandersetzen müssen, sind Ein-Mann-Entscheidungen guten Gewissens gar nicht mehr möglich. Deswegen vertrauen wir auf die Stärken unserer Leute und auf Teamwork. Diese Strukturen werden von unseren Mitarbeitern, die gottseidank zum größten Teil eigenständig arbeiten und ihre Ideen einbringen, sehr geschätzt. Um Kontinuität und Wissenstransfer zu garantieren, stellen wir jedes Jahr zwei Azubis pro Sparte ein – mit Übernahmegarantie. 

Reichelt: Wir arbeiten mit Kollegen, die zum Teil schon seit 30, 40 Jahren dabei sind. Denn wir finden nicht, dass jemand Altgedientes sich keinen neuen Themen mehr stellen kann. Im Gegenteil: Um den umfassenden Herausforderungen der Zukunft begegnen zu können, sind wir auf die Expertise dieser Leute voll angewiesen, wenn sie in der Lage sind, sich entsprechend weiterzuentwickeln. Eigene Egoismen hintanstellen, den Kollegen Wertschätzung entgegenbringen, eine gute Arbeitsumgebung schaffen und die Devise „Stärke den anderen“ – das ist die Essenz unserer Unternehmenskultur, die ich nach Schleswig-Holstein mitnehmen möchte. 

Die Stadtwerke Menden versorgen die Stadt im Sauerland mit Strom, Erdgas, Trinkwasser, Wärme und energienahen Dienstleistungen. 

Klingt alles unglaublich harmonisch. Aber wenn Herr Reichelt sich jetzt kurz die Ohren zuhält, sagen Sie doch mal, Herr Lürbke, wie froh Sie wirklich sind, wenn der andere dann mal weg ist?

Lürbke (lacht): Freuen sicherlich nicht! Vielmehr geht es darum, dass wir das nicht verlieren, was wir erreicht haben, und dass wir an den großen Themen dranbleiben, auch wenn die letzten zehn Prozent bekanntlich die schwierigsten sind.  

Welche Themen wollen Sie in Zukunft noch forcieren?

Lürbke: Da steht an erster Stelle die Klimaneutralität Mendens, die wir weiter ausbauen werden. Zu den Basisaufgaben eines Stadtwerks zählt da natürlich, ein geeignetes Stromnetz, ein Verteilernetz zur Verfügung zu stellen, um die Energiewende, die ja schwerpunktmäßig elektrisch ist, überhaupt realisieren zu können. Auch das Thema E-Mobilität haben wir in Angriff genommen, und präsentieren uns hier mit dem E-Mobilitätskonfigurator HEPPY als Lösungsanbieter. In Kooperation mit verschiedenen Autohäusern bieten wir unsren Kunden ein Komplettpaket für E-Auto, Ladebox und Ökoladestrom an, was ihnen den Einstieg in die Elektromobilität erleichtert. 

Reichelt: Zu den Bausteinen eines „Klimaneutralen Menden“ zählt auch die Tochtergesellschaft von Stadt und Stadtwerken „mendigital“, mit der wir massive 3,5 Millionen Euro aus dem Smart-City-Fördertopf nach Menden holen konnten. Während die digitale Entwicklung oft am Bauamt oder an einem städtischen Beauftragten hängt, haben wir uns auch hier für den Weg der Kooperation entschieden und konnten mit dem Startup drei junge Leute an Bord holen, die Menden smart machen. Unter großer Bürgerbeteiligung und Mitwirkung von Experten aus Wirtschaft und Forschung haben wir einen Fahrplan verabschiedet, der von LoRaWAN-Netzen über intelligente Bienenkörbe und Mülltonnen bis zu virtuellen Stadtführungen, Digital-Trainings für Schüler und Senioren oder Smart & Park reicht. Unter dem Motto „Das neue Wir“ wird es jetzt um die Umsetzung gehen.

So pushen die Stadtwerke Menden die Energiewende

Und was tut sich in Sachen Energiewende in Menden?

Lürbke: Da haben wir als Stadtwerk uns erst einmal an die eigene Nase gefasst und optimieren die Wärmeversorgung unserer sowie der städtischen Liegenschaften. Außerdem haben wir eine Freiflächenphotovoltaik-Anlage ans Laufen gebracht, die im Laufe des Jahres den Energiebedarf unseres Wasserwerks decken soll. Wie man den Wärmesektor mit Hilfe von Wasserstoff klimaneutraler gestalten kann, ist ebenfalls ein Thema, das bei Verwaltung und Mendenern auf großes Interesse stößt. Hier so wie bei Photovoltaik und Windkraft geht es nur voran, wenn Sie die Bürger beteiligen und etwa über Genossenschaften miteinbinden. Die juristischen Hürden sind allerdings immens, so gibt es in Menden derzeit nur eine Windenergieanlage, die dort nach heutiger Gesetzeslage gar nicht mehr genehmigungsfähig wäre. Klar ist aber auch, dass wir beim Ausbau der Erneuerbaren vermehrt auf Wasserkraft etwa durch Flusswerke setzen müssen, die kontinuierlicher als Sonne- und Windkraft zur Verfügung steht. Sowie auf Erdwärme und natürlich die Sektorenkupplung und Speichermedien, um Überkapazitäten der regenerativen Stromerzeugung nutzen zu können. 

Tatsächlich sieht sich Deutschland derzeit gezwungen, wieder auf Kohle und Gas zurückzugreifen. Wie stehen Sie zum Thema Atomkraft?

Lürbke: Neue Atomkraftanlagen sollte man nicht bauen, aber mein Bauchgefühl sagt mir, wir sollten in so einer Krise alles nutzen, was noch sinnvoll betrieben werden kann, so lange, bis die Alternativen da sind. Das ist genau das Problem: Wenn man zuhause eine alte Heizungsanlage ausbaut, wartet man mit ihrem Rausschmiss so lange, bis die neue vor der Tür steht. Das hat man in Europa und vor allem in Deutschland mit seinen hohen Zielvorgaben verpasst, wo etwa die boomende Photovoltaikbranche nach der Absenkung der Einspeisevergütung eingebrochen ist. Jetzt wollen alle, auch Privatleute, Versäumtes schnell nachholen und wir sehen uns mit Lieferzeiten für Module oder Wechselrichter von einem Jahr konfrontiert. Doch man soll ja nicht nur meckern, sondern auch mal anerkennen, was Deutschland in der Kürze der Zeit mit den neuen LNG-Terminals oder auch den Bürgerhilfen wie den Preisbremsen für Strom und Wärme auf den Weg gebracht hat. 

Wie spüren die Stadtwerke Menden die aktuellen Krisen?

Birgt die Ballung der Krisen – Pandemie, Russlands Krieg, Versorgungsengpässe – auch Chancen, um den Energiewandel zu beschleunigen?

Reichelt: Auf jeden Fall! Sowohl privat als auch gewerblich ist der Ausbau der Erneuerbaren derzeit so lohnend wie noch nie. Doch es muss auch klar sein: Trotz aller punktuellen Hilfen wird Energie dauerhaft teuer bleiben. Und wenn Stadtwerke und ihre Kunden von den günstigeren Beschaffungen der Vorjahre nicht mehr profitieren werden und die Beschaffungskosten an den Märkten weiter so hoch bleiben, wird’s erst richtig heiß und so mancher Haushalt wird sich fragen müssen: Können wir uns Strom und Wärme noch leisten? Da hilft nur eins: weniger verbrauchen. Das gilt auch, wenn man sich die Frage stellt: Wie nachhaltig, wie klimaneutral stellen sich meine Stadt und ich selbst auf? Im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie wird es ohne einen stückweiten Verzicht nicht gehen.

Wo sehen Sie da die Verantwortung der Stadtwerke?

Lürbke: Vor allem in der Beratung. Wir müssen unsere Kunden gerade jetzt sensibilisieren und sie über die Kosten, die noch kommen werden, aufklären wie auch über Einsparungsmöglichkeiten, etwa beim Lüften oder Dämmen. Ich glaube, wie sind die einzige Branche, die Geld ausgibt, damit ihre Kunden weniger kaufen. Das wäre so, als würde ein Bäcker die Leute überreden, weniger Brötchen zu kaufen!

Und warum machen Sie es dann?

Lürbke: So ein Stadtwerk wie wir, das seit 160 Jahren am Standort ist, arbeitet für die Bürger seiner Stadt, die ja über die 100-Prozent-Beteiligung der Kommune quasi auch unsere Eigentümer sind. Wir wollen offen und ehrlich mit allen Themen umgehen und gemeinschaftliche Lösungen finden. Und als gebürtiger, gut vernetzter Mendener will ich natürlich auch in Zukunft mein Bier mit den Leuten in der Kneipe hier trinken können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dipl.-Wirtsch.-Ing. (FH) Bernd Reichelt verlässt zu Ende April nach zehn Jahren das Sauerland, um künftig die Stadtwerke Schleswig-Holstein zu leiten.

Dipl.-Ing. (FH) Matthias Lürbke, gebürtiger Mendener und bereits seit 2015 in der Geschäftsleitung tätig, folgt Reichelt auf dem Chef-Sessel. Seit 2015 vertritt der zweifache Vater als Prokurist den Geschäftsbereich Netz innerhalb der Geschäftsleitung der Stadtwerke Menden. Bereits seit dem Jahr 2011 ist der studierte Diplom-Ingenieur und Betriebswirt zusätzlich Geschäftsführer der WFM Wasserwerk Fröndenberg-Menden GmbH und seit 2018 der NetzService-Ruhr GmbH.


Fotos: Stadtwerke Menden